Auch Stempel können Geschichten erzählen – zum 5. Tag der Provenienzforschung am 12.04.2023
11. April 2023
von Redaktion — abgelegt in: Ausstellungen und Veranstaltungen — 1.023 Aufrufe
Von Anneke de Rudder (Arbeitsstelle Provenienzforschung – NS-Raubgut).
Bücher aus der Bibliothek der Deutschen Oberschule im Haag
Die Arbeitsstelle NS-Raubgut der Stabi freut sich, zum diesjährigen Tag der Provenienzforschung nach längerer Corona-Pause endlich wieder eine Veranstaltung vor Ort anbieten zu können. Wir stellen unseren Kolleg:innen aus Hamburger Bibliotheken aktuelle Fälle aus unserem Arbeitsalltag vor und sehen gemeinsam Bücher mit besonderen Provenienzmerkmalen etwas genauer an: eine Spurensuche rund um rätselhafte Namenszüge, Stempel, Etikette und Exlibris.
Dieser Werkstattbericht findet im Rahmen des internationalen Aktionstags statt, der seit 2019 vom Arbeitskreis Provenienzforschung e.V. organisiert wird. Für Provenienzforschende bietet der Tag eine gute Gelegenheit, öffentlich auf die Bedeutung ihrer Arbeit aufmerksam zu machen. Zwar richtet sich unser diesjähriges Angebot primär an Kolleg:innen aus dem Bibliotheksbereich, aber auch andere an der Thematik Interessierte sind uns am 12.04. um 14 Uhr im Konferenzraum der Stabi willkommen.
Begleitend dazu widmet sich dieser Blogartikel einer Reihe von Büchern, die in den 1940er Jahren aus den Niederlanden in die Stabi gekommen sind und deren Herkunft die Provenienzforschenden an der Stabi schon seit längerem beschäftigt. Die Recherchen laufen, dies ist also „work in progress“ ohne abschließende Ergebnisse. Es geht um Stabi-Zugänge, die über Dr. Walter Soechting vermittelt wurden, einen aus Hamburg stammenden Lehrer und NS-Kulturpolitiker, der seit 1936 Lehrer und später Direktor an der deutschen Oberschule in Den Haag war. Den bemerkenswerten Auftakt bildeten acht wertvolle Atlanten aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die die Bibliothek Anfang 1944 erwarb (und von denen einige kürzlich in unserer Sonderausstellung „Sehr erfreuliche Vermehrungen“ zu sehen waren). Der Hinweis auf die Erwerbungsquelle war von Walter Schellenberg aus der Hamburger Kunsthalle gekommen. Er vermittelte dem damaligen Bibliotheksdirektor Heinrich Reincke den Kontakt zu seinem Freund Dr. Soechting in Den Haag.
Auf die Atlanten folgten Mitte 1944 Ankäufe etlicher antiquarischer Bücher. Und schließlich wurden um 1951 noch über hundert weitere Zugänge aus dieser Quelle eingearbeitet, die vermutlich bereits kurz nach Kriegsende erworben worden waren. 2009 fielen diese Bücher den Provenienzforschenden bei einer systematischen Regaldurchsicht auf. Fast alle tragen ein eindeutiges Provenienzmerkmal: „Deutsche Oberschule im Haag“, bzw. „Deutsches Realgymnasium Den Haag“ (so der Name der Schule bis 1939).
Was hatte es mit dieser Schule und ihrem Direktor auf sich? Schon erste Recherchen machten deutlich: Der 1906 geborene Walter Soechting stand dem Nationalsozialismus sehr positiv gegenüber. Er war ein aufstrebender NSDAP-Funktionär und ein umtriebiger Propagandist des „Deutschtums“ im Ausland. Regelmäßig veröffentlichte er kleinere Beiträge in der „Deutschen Zeitung in den Niederlanden“, dem von 1940 bis 1945 in Amsterdam publizierten Organ der deutschen Besatzungsmacht. 1942 erschien von ihm die Überblicksdarstellung „Das Niederlandbuch“, mit dem die politische und kulturelle Zugehörigkeit der Niederländer zu Deutschland demonstriert werden sollte. Der „Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete, Reichsminister Arthur Seyß-Inquart“ schrieb dazu ein lobendes Geleitwort. Durch seinen Posten an der Oberschule und seine politischen Aktivitäten war Soechting zweifellos eine gut vernetzte Figur im Kulturbetrieb der deutsch besetzten Niederlande.
Diese Erkenntnis führte zu einem Anfangsverdacht auf NS-Raubgut: Profitierte die eng in die Besatzungsverwaltung eingebundene Deutsche Oberschule möglicherweise von Beschlagnahmungen durch Kulturraub-Institutionen des NS-Regimes wie dem „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ (ERR)? Ein Blick in die ERR-Monatsberichte aus den Niederlanden bestätigte die Vermutung: mehrfach war hier 1941 von großen Mengen an Bücherkisten die Rede, aus denen u.a. den Deutschen Oberschulen Bände zur Verfügung gestellt würden. Im Oktober 1941 erwähnte ein Bericht sogar speziell „reichhaltiges vor allem jüdisches Schrifttum“. Und woher kamen diese Bücherkisten? Als Quelle nannten die Berichte „Heim in Holland“ – eine von den deutschen Besatzern gegründete Organisation, die beschlagnahmte Möbel und anderes bewegliches Gut aus jüdischen Haushalten u.a. an deutsche Dienststellen weiterverteilte. Tatsächlich war also die Deutsche Oberschule in Den Haag Empfängerin von beschlagnahmten Büchern. Aber machte das automatisch alle Zugänge aus dieser Quelle verdächtig?
Wichtige Klärung brachte die Lektüre der 1987 verfassten Memoiren „Was Walter Soechting in 80 Jahren bedenkenswürdig und bedenkenswert befand“, die als gedrucktes Typoskript in der SUB vorliegen. Ohne große Scheu oder Scham erzählt Soechting darin von seiner rundum schönen und erfolgreichen Zeit an der Deutschen Oberschule in Den Haag. Nicht zuletzt erwähnt er die Schulbibliothek – und spricht ganz offen davon, wie sie unter seiner Ägide schnell auf zuletzt rund 10.000 Bände angewachsen sei: „Mir wurde der Aufbau dieser Bibliothek als einer zentralen Versandbücherei aufgetragen für die […] neugegründeten deutschen Schulen in den Niederlanden. Dafür standen große Geldmittel zur Verfügung, […] und viele Bücher aus beschlagnahmten Beständen wurden mir zur Verfügung gestellt, die von der Stiftung Alfred Rosenberg kamen, meist aus jüdischem Besitz.“ Mit dieser „Stiftung“ ist höchstwahrscheinlich der ERR gemeint.
Seit 1944 musste die Schule im Rahmen der Kinderlandverschickung mehrfach den Ort wechseln. Soechting betont in seinen Erinnerungen, dass es ihm dabei stets ein wichtiges Anliegen gewesen sei, auch die große Bibliothek mitzunehmen. Bei Kriegsende landete die Schule mitsamt der Bibliothek schließlich in Fallingbostel. Soechting beschreibt, wie er kurz nach Kriegsende immer wieder Bücher verkauft habe, um die Versorgung der letzten noch in der Schule verbleibenden Schüler:innen zu sichern. Im Zuge dessen ist vermutlich auch das oben erwähnte große Konvolut in die Stabi gekommen, das erst 1951 eingearbeitet wurde.
Und was erzählen nun diese Bücher? Vorweg eines: Auch wenn der Verdacht auf NS-Raubgut sehr dringend ist, finden sich in den erhaltenen Bänden keine Spuren, die eindeutig auf beschlagnahmte Bücher aus jüdischen Haushalten hinweisen. Aber an einigen Exemplaren lässt sich durchaus ein interessanter Vorbesitz ablesen. So verdeckt etwa manchmal der Schulstempel einen älteren Stempel: den von der Lehrerbibliothek der „Vrije School“.
So heißen in den Niederlanden die Waldorf-Schulen – die „Vrije School“ in Den Haag z.B. wurde schon 1923 unter dem Einfluss Rudolf Steiners gegründet. In der Zeit der deutschen Besatzung musste sie schließen. Es ist durchaus möglich, dass ihre Bibliothek daraufhin an die Deutsche Oberschule überging – noch zu klären ist hier, ob dieser Übergang rechtmäßig war. Im Kontext der anthroposophischen Bewegung könnten auch einige der aufgefundenen Autogramme zu lesen sein. Noch ist dies aber weitgehend Spekulation: So war „C. J. de Jaager“ etwa ein niederländischer Kolonialbeamter in Indonesien, sein Sohn Jacques de Jaager wiederum ein Künstler, der in Den Haag lebte, sich schon früh der Anthroposophie verschrieb und 1915 in der Schweiz starb.
Könnten Bücher aus dieser Familie über die Bibliothek der „Vrije School“ in die Oberschule gekommen sein? Oder ist dies ein reiner Zufall? Auf Vermutung angewiesen sind wir auch im Falle des Schriftzugs „J… van der Linden“ und des schönen handgezeichneten Monogramms „vdL“.
Zwei wichtige Figuren in der niederländischen Anthroposophie waren die Brüder Jan und Kees van der Linden, die beide in den 1930er Jahren am Bauhaus in Dessau und in Berlin studierten. Kees unterrichtete sogar an der „Vrije School“ in Amsterdam und war in der Besatzungszeit im Widerstand aktiv. Eine Anfrage im Bauhaus-Archiv nach den van der Lindens wurde zur Freude der Bearbeiterin sofort beantwortet. Die Reaktion machte jedoch deutlich, dass es sich hier um eine falsche Fährte handelte: Die Unterschriften beider Brüder sahen komplett anders aus als die in unserem Buch.
Dennoch: Kann es ein Zufall sein, dass gerade dieser Familienname auf unseren Büchern zu finden ist? Die Art der Unterschrift deutet eher auf eine Person aus einer Generation vor den Architekten-Brüdern. Eine Recherche in genealogischen Datenbanken förderte zutage, dass ihre Mutter mit Vornamen Femmina, ihr Vater Charles Florent van der Linden hieß. Könnte der als „J“ gelesene Anfangsbuchstabe vielleicht doch ein „F“ sein? Oder ist dies einfach eine völlig andere Provenienz?
Zum Abschluss soll ein Provenienzmerkmal erwähnt werden, dessen Zuordnung leichter war und bei dem der Verdacht auf NS-Raubgut dringender ist: der sehr schlichte Stempel „TO KLEVER“, der sich in einer niederländischen Literaturgeschichte findet.
Jacoba, genannt „To“, Lugt geb. Klever (1888-1969) war die Frau des bekannten niederländischen Sammlers und Kunsthistorikers Frits Lugt. Zusammen hatten die beiden in Den Haag eine große Kunstsammlung und eine Bibliothek aufgebaut. Sie gehörten zur menonnitischen Glaubensgemeinschaft und wurden vom NS-Besatzungsregime als „deutschfeindlich“ verfolgt. Das Ehepaar konnte noch Teile seiner Sammlungen in Sicherheit bringen und floh 1939 über die Schweiz in die USA. Mit dem Kriegseintritt der USA galten die Lugts dann zudem als „Aufenthaltsfeinde“, ihre in den Niederlanden verblieben Sammlungsbestände wurden beschlagnahmt und von den Besatzungsbehörden aufgeteilt. Ein Teil davon ging an den „Sonderauftrag Linz“, der überall in Europa Bestände für ein geplantes „Führermuseum“ zusammenraubte und -kaufte. Nach dem Krieg kehrten Frits und Jacoba Lugt nach Europa zurück und versuchten, die ihnen geraubten Kunstwerke wieder zurückzubekommen. Vieles blieb jedoch verschwunden.
In Kürze beginnt an der TU Berlin ein Forschungsprojekt zum Verbleib der Gemälde und Zeichnungen aus der Sammlung Lugt, welches ebenso wie das bei uns in der Stabi laufende Projekt zu NS-Raubgut in den Sondersammlungen vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste gefördert wird. Ein Kontakt zur Bearbeiterin ist bereits hergestellt – und wir hoffen, auf diesem Wege bald auch Genaueres über das Schicksal der Bücher von Frits und Jacoba Lugt erfahren zu können. Vielleicht kann dazu an dieser Stelle schon bald mehr berichtet werden.