75 Jahre “Draußen vor der Tür” von Wolfgang Borchert – Ein Hörer*innenbriefe-Countdown zum Jubiläum
4. Februar 2022
von Konstantin Ulmer — abgelegt in: Aufgelesen,Hamburg — 5.350 Aufrufe
Hörerbriefe „Draußen vor der Tür“.
Zwischen den Schuttbergen der nachkriegsdeutschen Städte trieben massenhaft Gebrochene umher. Viele von ihnen waren zwischen 1939 und 1945 als flinke, zähe, harte Übermenschen eines Großdeutschen Reiches in den Krieg gezogen. Jetzt kehrten sie als Verlierer und Verlorene in ein Land zurück, das besiegt und besetzt war. Einer dieser Heimkehrer, die nicht heimkehren konnten, rauschte am 13. Februar 1947 durch die Radioempfänger zwischen Köln, Kiel und Berlin. Beckmann nannte er sich, hatte keinen Vornamen, „einfach Beckmann“. Er war Hauptfigur eines Hörspiels, das der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) mit Sitz in Hamburg produziert hatte.
Nach Hamburg war auch der Autor des Stücks, Wolfgang Borchert, heimgekehrt, nachdem er 1941 als Zwanzigjähriger eingezogen worden war. Sein Soldatenleben war alles andere als heldenhaft gewesen. Als Schwerkranker hatte er sich nach Kampf- und Wacheinsätzen in den russischen Wäldern, Prozessen wegen Selbstverstümmelung und „heimtückischer Angriffe auf Staat und Partei“, Gefängnisstrafen und „Frontbewährungen“ im März 1945 in seine Heimatstadt Hamburg geschleppt, wo seine Eltern lebten. Borchert tat dort, was er als „Allesversucher und Nichtskönner“ – so sein Biograf Peter Rühmkorf – bereits vor dem Krieg am liebsten gemacht hatte: Er schrieb.
Als sein Hörspiel Draußen vor der Tür im Februar 1947 im NWDR ausgestrahlt wurde, war Borchert allerdings höchstens Insider*innen ein Begriff. Er hatte als eigenständiges Werk bisher nur das schmale Gedichtbändchen Laterne, Nacht und Sterne veröffentlicht, einige Prosatexte zudem in Zeitungen und Zeitschriften untergebracht. Mit seinem Hörspieltext traf er nun den Rundfunkpuls der Zeit, denn tagein, tagaus liefen auf den Sendern die Suchmeldungen, in Kommentaren wurden Fragen der sozialen Wiedereingliederung diskutiert, der Frauenfunk brachte Kochtipps für die Notdiäten zurückgekehrter Ehemänner.
Dementsprechend hallte die 80-minütige Inszenierung von Draußen vor der Tür unter der Regie von Ludwig Cremer, in der Originalfassung in der NDR-Mediathek abrufbar, lautstark nach. Hans Quest, der Beckmann des Hörspiels und später auch auf der Bühne, fing mit seiner Stimme den Aufschrei des Textes ein, das Pathos, die Larmoyanz, die ebenso provozierte wie der Inhalt: Beckmann, ein betrogener Heimkehrer, wird von der Elbe, in der er sich ertränken will, wieder ausgespuckt, flieht, nachdem ihn eine Frau aufgesammelt hat, vor einer Gespenstererscheinung ihres noch nicht zurückgekehrten Mannes, versucht seine Verantwortung, die sich in blutige Träume frisst, bei einem feisten Oberst abzuladen, wird von einem Kabarettdirektor verlacht, erfährt vom Tod der Eltern und endet im Schlussschrei: „Warum schweigt ihr denn? Warum? Gibt denn keiner Antwort? Gibt keiner Antwort? Gibt denn keiner – keiner – Antwort?“
Die Antworten sollten kommen. Haufenweise landeten sie unmittelbar nach der Ursendung in der Redaktion des NWDR und sind bis heute im Wolfgang-Borchert-Archiv der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek einsehbar. Als zeitgeschichtliches Zeugnis sind sie von großem Wert. Mit einem Countdown aus den Hörer*innenbriefen möchten wir zum 75. Jubiläum am 13. Februar 2022 führen und veröffentlichen bis dahin in diesem Artikel jeden Tag einen neuen Hörer*innenbrief:
Die Originalfassung in der NDR-Mediathek von 1947
Der Draußen vor den Türen-Podcast des NDR aus dem Jahr 2021
4.2.22
10: „Vergessen werde ich es wohl nicht so leicht“
Spürbar aufgewühlt schrieb noch am Abend der Premiere ein Dortmunder an den NWDR. Ob er sich in seinen eigenen Lebensumständen vom Schicksal des Heimkehrers angesprochen fühlte, ließ er offen. Spürbar war aber, dass seine Begeisterung nachvibrierte. „Es war das Gewaltigste“, schrieb er enthusiastisch, „was ich jemals aus meinem Empfänger vernommen habe.“
Emotionale Reaktionen wie diese finden sich in den Hörer*innenbriefen zuhauf, in deutlich größerer Anzahl als sachliche oder gar analytische Antworten. Draußen vor der Tür berührte unmittelbar – und das nicht nur im Positiven, wie in unserem Jubiläumscountdown zu sehen sein wird.
5.2.22
9: „Äpfelchen, wohin rollst Du!“
Ein „ansonsten funkbegeisterter Hörer“ aus Wuppertal schrieb den NWDR unmittelbar nach der Uraufführung des Hörspiels am 13. Februar an. Buchstäblich entgeistert war er im doppelten Sinn. Am Vorabend war „das geistig triviale“ Unsere Frau Mama gesendet worden, nun konnte er mit Borcherts Draußen vor der Tür rein gar nichts anfangen. Mit beißendem Spott schrieb er: „Wenn dieser Herr Beckmann in der ersten Minute des Hörspiels versoffen wäre, – es wäre vielen Hörern ein widerliches Spiel erspart geblieben.“
Was genau er als „widerlich“ empfand, schrieb der Hörer nicht. Draußen vor der Tür wurde von vielen Seiten angegriffen, mit Blasphemie- und Nihilismus-Vorwürfen konfrontiert, als antideutsch eingestuft. Vielleicht bezog sich der Briefeschreiber aber auch, ähnlich wie im Fall von Unsere Frau Mama, auf die Qualität des Stücks. Kritik sollte es nach der Uraufführung der Theaterfassung am 21. November auch von zwei bekannten Theaterkritikern der Zeit geben: Währen Friedrich Luft von der „Qual“ sprach, „ein neurotisches Lamento bis zum vagen Ende mitanhören zu müssen“, schrieb Fritz Erpenbeck kategorisch: „Borchert war ein Anfänger, er hatte nicht die geringste Ahnung von Dramaturgie.“
6.2.22
8: „– bis um 21 Uhr der Strom abgeschaltet wurde“
Ein Hamburger Schneidermeister verfolgte das Hörspiel „mit grösstem Interesse und äusserster Spannung“ – allerdings nur „bis um 21 Uhr der Strom abgeschaltet wurde“. Knapp zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren Stromsperren noch an der Tagesordnung und der Kohlenmangel im Eiswinter 1946/47 hatte die Situation noch verkompliziert. Die verschiedenen Stadtteile der Hansestadt wurden nur wenige Stunden am Tag mit Strom versorgt. Vielleicht, so hoffte der Hörer, könne der zweite Teil noch einmal wiederholt werden.
Das Schicksal des Absenders teilte übrigens auch der Autor des Stücks. Wolfgang Borchert war nach dem Krieg bei seinen Eltern in Alsterdorf untergekommen. Dort hatte er nicht einmal den Anfang seines Hörspiels hören können. Im ehemaligen Bauerndorf, das längst von der Großstadt geschluckt worden war, lief der Strom am 13. Februar nämlich nur von zehn bis vierzehn Uhr.
7.2.22
7: „Es wäre […] zu empfehlen, den irrsinnigen W. Borchers zum Ruhrbergbau zu melden“.
Den anonymen Leserbrief eines „alten Ostfrontkämpfers“ würde man heute wohl als Hatespeech bezeichnen. Noch am Sendungstag echauffierte sich der Absender gegenüber dem NWDR, dass „dieser 25 jährige, geistig völlig unnormale Wolfgang Borchers [sic]“ es „in einer Zeit von Not und Elend“ wage, den Hörern „schandbaren Naturalismus vorzusetzen“. Dem Sender sei zu empfehlen, „den irrsinnigen W. Borchers zum Ruhrbergbau zu melden, damit er sich dort den Wind um die Nase wehen lassen kann!“
Interessant ist die literarische Einordnung des Stücks durch den Absender: Er bezeichnet Draußen vor der Tür als Naturalismus, also, legt man die literaturwissenschaftliche Definition zugrunde, als exakte, ungedeutete, objektive Abbildung der Wirklichkeit.
8.2.22
6: „und der Oberst in dem Spiel sagte mir besonders zu, zumal solche Figur in meinem Hause lebt“
Am 17. Februar schrieb ein „Krückenmann“ aus Kiel über den NWDR dem Verfasser des Hörspiels, um ihm seinen „besten Dank“ auszusprechen. Im positiven Sinne erschüttert war er auch deswegen, weil er Bezüge zu seiner Lebenswirklichkeit feststellen konnte. Bei ihm im Haus wohne ein ehemaliger Marine-Feldwebel, der gut durch den Krieg gekommen sei und sich als „Stiefellecker bei unseren besten Freunden“ offenbare.
Diese persönliche Erfahrung war durchaus repräsentativ. Die „Persilscheine“, mit denen ehemalige Angehörige nationalsozialistischer Institutionen mit der sprichwörtlichen weißen Weste in ihr neues Leben in den Besatzungszonen starten konnten, waren recht einfach zu bekommen. Die Kontinuität war vor allem in der 1949 gegründeten Bundesrepublik enorm. Das Braunbuch Kriegs- und Naziverbrecher, 1965 in der DDR vorgestellt, legte mit einer Irrtumsquote von unter einem Prozent die NS-Vergangenheit von 1800 damaligen westdeutschen Würdenträger*innen in Staat, Wirtschaft, Armee, Verwaltung, Justiz und Wissenschaft offen.
9.2.22
5: „In der heutigen Zeit möchten wir zur Entspannung leichte Musik“
Eine anonyme „Wasserleiche“ aus Köln war mit der schweren Kost, die das Hörspiel Draußen vor der Tür bot, nicht einverstanden. „In der heutigen Zeit“, so hieß es in der Zusendung vom 15. Februar, „möchten wir zur Entspannung leichte Musik“.
Die in dem Schreiben geäußerte Forderung und der dahinterliegende Wunsch nach Eskapismus findet sich in den erhaltenen Hörer*innenbriefen immer wieder. Die gequälte Generation, so der Tenor, solle man nicht weiter quälen, stattdessen etwas mehr „Freude und Abwechslung“ anbieten, Volkstümliches, auch mal eine „schöne Operette oder ein nettes plattdeutsches Stück“, wie es in anderen Schreiben hieß, die den NWDR erreichten.
10.2.22
4: „Es soll so schön gewesen sein“
Viele interessierte Hörer*innen im NWDR-Sendegebiet hatten am 13. Februar Draußen vor der Tür zu verpasst und längst nicht alle davon waren von Stromsperren betroffen gewesen. Doch die Sendung provozierte ein Echo, sie sprach sich herum. „Darf ich Ihnen die Mitteilung machen, daß ihr Hörspiel […] mit ganz großem Beifall aufgenommen worden ist“, schrieb beispielsweise ein Nicht-Hörer aus dem Sauerland am 17. Februar. Daran anknüpfend äußerte er gleich sein Anliegen: Mit ihm würden „sehr viele Hörer in unserem Kreis […] freundlichst bitten, uns dieses schöne Hörspiel noch einmal zu senden“.
11.2.22
3: „Meinen Sie, daß aus einem solchen Spiel Positives für unser deutsches Volk herauskommt?“
Gott tritt in Draußen vor der Tür als weinerlicher, hilfloser alter Mann auf. Das war für eine christlich-völkisch denkende Lehrerin aus Delmenhorst, die am 16. Februar an den NWDR schrieb, ein unerhörtes Sakrileg. Ohnehin stimme die Tendenz des Stückes nicht. „Es ist nicht wahr“, schrieb sie, „daß das deutsche Volk so zerrüttet ist, daß die Ehen alle kaputt, die Offiziere alle verantwortungslos“ seien.
Viele Hörer*innen stießen sich an der Gottesdarstellung und kritisierten das Stück als blasphemisch. Die Verfasserin des Hörer*innenbriefs verband ihre Kritik mit einer Aufforderung: Sie und viele Gleichdenkende möchten „doch bitten bei aller Traurigkeit der Verhältnisse dem deutschen Volk eine aufmunternde, gläubige Kost vorzusetzen“. Dafür war Wolfgang Borchert, selbst als junger Mann aus der Kirche ausgetreten, gewiss nicht der Richtige – auch wenn seine lebenslustige, humorvolle Seite in etlichen seiner Texte anklingt.
12.2.22
2: „Sie sind auf dem richtigen Wege, wenn der Gaul auch einmal über die Stränge wichst“
Nachdem am 25. Februar in der (damals eher liberalen) Welt ein Artikel über das Hörspiel erschienen war, sah sich ein Hörer aus Uelzen zu einem bestärkenden, verteidigenden Brief an den NWDR ermuntert. Die nationalsozialistische Ideologie steckte vielen Deutschen noch in den Knochen und im Kopf. Deswegen, so urteilte der Hörer, könne das Volk „gar nicht genug aufgeklärt werden, wer die Henker und Mörder der Toten sind. […] Es soll und muß so aufgeklärt werden, daß es die egoistischen Nationalisten gleich erkennt und ihnen den Schädel einschlägt.“
Dass er zwar die Tendenz von Draußen vor der Tür guthieß, von dem Hörspiel aber nicht in Gänze begeistert war, lässt sein abschließender Satz vermuten: „Sie sind auf dem richtigen Wege, wenn der Gaul auch einmal über die Stränge wichst.“
13.2.22
1: „Dadurch dass einmal unsere Seelenlast aufgerollt wurde, habe ich eine Erleichterung verspürt“
Draußen vor der Tür sollte zu einem generationsprägenden Stück werden, Wolfgang Borchert als Stimme seiner Altersgenoss*innen in die Geschichte eingehen. Warum, das lässt der Brief eines Kölner Hörers vom 15. Februar 1947 erahnen, der tief berührt schrieb: „Sie haben die ungeheuerliche Bewegung, die unser Inneres aufwühlt, all das, was uns fast wahnsinnig macht, meisterhaft gestaltet.“
Das Stück hatte für viele Hörer*innen, die ihre Lebensumstände behandelt sahen, im wahrsten Sinne kathartische Wirkung, einen therapeutischen Charakter. Das war einer der entscheidenden Gründe für die außergewöhnliche Resonanz. „Dadurch dass einmal unsere Seelenlast aufgerollt wurde“, urteilte der Hörer aus Köln stellvertretend für viele andere, „habe ich eine Erleichterung verspürt.“
Mein Großvater hatte vier sehr junge Töchter und wurde eingezogen. Er war kein, wie von Ihnen, beschriebener Übermensch. Er kam gebrochen aus diesem Krieg wieder und erzählte mir von diesem Hörspiel. Er konnte es leider nicht hören, da er kein Radioapparat besaß.
Liebe Frau Meyer,
vielen Dank, dass Sie ihre Erinnerungen teilen! Borchert gab mit dem Stück der Generation ihres Großvaters, die Schreckliches erleben musste, eine Stimme. Wie die Menschen darauf reagierten, ob sie sich angesprochen oder angegriffen fühlten, war sehr unterschiedlich, wie Sie im Countdown der vorgestellten Hörer*innenbriefe sehen werden.